Fußball und Football News hat sich angeschaut, wie die nach der WM-Pleite allerorts erhobenen Vorwürfe nun zu bewerten sind. Nach dem Spiel gegen Weltmeister Frankreich: Hat der Bundestrainer aus seinen Fehlern gelernt? Hat „Die Mannschaft“ die richtigen Schlüsse gezogen?

1. Vorwurf – Löw hat falsch nominiert !

Entkräftet14:8 Torschüsse und 10:2 Ecken. Vor der 80. Minute ein Torschuss-Verhältnis von 8:0 gegen den regierenden Weltmeister mit nahezu der gleichen Mannschaft, die auch die WM spielte. Deutschland war besser als Frankreich. Es lässt sich der Schluss ziehen, dass es in Russland tatsächlich weniger am Personal als an Einstellung, System und Leistungsbereitschaft lag. Letztlich hat nur der überragende französische Goalie einen Sieg Deutschlands über den frisch gebackenen Weltmeister verhindert. Deutschlands Spielermaterial ist immer noch Weltklasse.

2. Vorwurf – Die Mannschaft ist keine Mannschaft !

Entkräftet – Jeder opferte sich für die Mannschaft auf. Bei der WM rannten die Spieler noch selbstsüchtig und unbedacht nach vorne, ließen die Mannschaft im Stich. Dieses Mal hielten die Spieler ihre Position. Auch ein Verdienst der Ochsen-Kette mit vier gelernten Innenverteidigern, die sich nicht zu schade waren, die Drecksarbeit zu verrichten (Ginter wurde gar zum „Spieler des Spiels“ gewählt). Zudem fightete Kimmich auf der 6 alles nieder, was ihm in die Quere kam. Man merkte dem deutschen Team an, dass es nach der Schmach von Russland etwas wiedergutmachen, will, den ramponierten Ruf wiederherstellen will. Es stand ein Team auf dem Platz, das sich miteinander für Deutschland zerriss.

3. Vorwurf – Deutschland spielt überheblich !

Entkräftet – Die Einstellung und Leistungsbereitschaft gegen Frankreich war eine ganze andere als noch beim Altherren-Fußball bei der WM. Jeder Deutsche gab 100 Prozent, kämpfte und rackerte. Die Statistiken der UEFA bestätigen das: Deutschland gewann in der Verteidigung gleich viele Bälle wie der Weltmeister (37) und dominierte bei den Rettungstaten (5:2). Zudem begingen Löws Jungs nahezu doppelt so viele Fouls (14 vs. 6). Wille, Zweikampfstärke, Einsatz – alles was Hummels und Co. bei der WM so schmerzlich vermissen ließen, gegen Frankreich waren die deutschen Grundtugenden wieder da. Auf diesem geschlossenen Team-Spirit lässt sich aufbauen. 

4. Vorwurf – Löws Ballbesitz-Fußball führt nicht mehr zum Erfolg  !

Offen  Auffällig bei der WM war, dass alle Ballbesitz-Nationen wie Spanien, Brasilien, Argentinien und Deutschland frühzeitig ausschieden. Frankreich ließ den Gegner spielen, schaltete perfekt um und wurde Weltmeister. Die Frage beschäftigte Fußball-Deutschland: „Ist Löws Ballbesitz-Fußball noch gut für Titel?“ – Die Antwort kann in einem einzigen Spiel nicht gegeben werden – aber deutlich wurde, dass der Bundestrainer nicht von seiner Ballbesitz-Dominanz abrücken will und wird. Löw Spielanlage war wie eh und je. Dies wurde im Nations League Spiel des Ex-Weltmeisters gegen den Neu-Weltmeister deutlich: 57% vs. 43% Ballbesitz sowie 635 vs. 427 gespielte Pässe sprechen eine deutliche Sprache. Löw ist aber lernfähig. Er vertraute in der Innenverteidigung auf seine Ochsenkette mit 4 Innenverteidigern, sicherte mit dieser seinen dominanten Ballbesitz-Fußball viel besser ab als noch bei der WM. Zudem holte er schnelle, dynamische Umschaltspieler in den Kader (wie Schulz oder Havertz). Eine Mischung aus Ballbesitz- und (!) Umschalt-Fußball könnte die grundlegende, neue DNA des Nationalteams darstellen.

5. Vorwurf – Jogi Löw ist nicht mehr der Richtige !

Etwas entkräftet  Man muss ihm lassen: Alle seine Kniffe wirkten gegen Frankreich. Hinten stand Deutschland sicher, vorne war Deutschland besser als Frankreich. Es war mit freiem Auge zu erkennen, dass Deutschland viel besser spielte als noch bei der WM – wenn auch nicht berauschend. Der Glanz früherer Tage wich der Pragmatik. Safety First war merklich die Devise, den Laden dicht halten hatte oberste Priorität. Lohn der Mühen: Frankreich hatte fast kein einzige Torchance im Spiel. Wir erinnern uns zurück an die WM: Die Angreifer von Mexiko, Schweden und Südkorea liefen ein ums andere Mal völlig frei aufs Tor von Manuel Neuer zu. Hätte Deutschland gegen Frankreich ein Debakel erlitten, wäre Löw vielleicht nicht mehr zu halten gewesen. So meisterte Löw sein Schicksalsspiels souverän (im Vergleich zu jenem gegen Südkorea bei der WM), ließ die Stimmen gegen ihn weitestgehend verstummen. Deutschland unter Löw ist immer noch mindestens auf Augenhöhe mit den Besten der Besten.

6. Vorwurf – Deutschland braucht einen völligen Neuanfang !

Verpasst – Löw berief 17 Spieler seinen WM-Versager-Kaders wieder ein. Wäre Özil nicht zurückgetreten, wären es sogar  18 gewesen. Der Langzeit-Bundestrainer selbst legte bis heute keinem einzigen seiner treuen Weggefährten nahe zurückzutreten. Von einem Neuanfang kann hier keine Rede sein. Das Spielsystem änderte sich zwar von 4-2-3-1 auf 4-1-4-1, gleich blieb aber der dominante Ballbesitz-Fußball weit in Gegners Hälfte. Die Vierer-Kette mit 4 Innenverteidigern ist auch nicht neu, sondern alt (WM 2014). Fazit: Es wurde, durchaus erfolgreich, an gewissen Stellschrauben gedreht, aber von dem landauf, landab geforderten kompletten Neuanfang ist Deutschland weit entfernt. Den wird es nur eines Tages mit einem neuen Bundestrainer geben.